Klimawandel bringt neue Dimension des Ethnozids hervor

Vom Untergang ganzer Kulturen

 Der enge Kontakt zwischen den Menschen und ihrer Umwelt ist unter den extremen zirkumpolaren Bedingungen immer von besonderer Bedeutung gewesen. Die indigenen Völker in Alaska, Sibirien, Kanada, Grönland und Nordskandinavien (traditionelle Rentierhaltung der Sámi gefährdet) haben sich dem arktischen Lebensraum immer anzupassen gewusst. Ihre Wirtschaftsweise, ihre Religion, ihre soziale Organisation, ihr Handwerk und ihre Kunst – ihre gesamten Kulturen stehen in einem engen Verhältnis zu ihrer Umwelt. Die Inuit-Sprache hat bekanntlich viele verschiedene Begriffe für Schnee. Auch in Bezug auf das Klima zeugt die Sprache von der hohen kulturellen Bedeutung des Benannten. So schliesst der Begriff „sila“ (Klima / Wetter) auch das Bewusstsein über eine alles durchdringende und Leben gebende Kraft, die sich in jedem Menschen zeigt, ein. Der Rhythmus des Menschen ist eins mit dem Rhythmus des Lebens und der Natur.

Die Globalisierung, d.h. die fortschreitende Umweltzerstörung durch multinationale Konzerne, und der mit ihr zusammenhängende Klimawandel, verändern die Lebensweisen der indigenen Völker der Arktis heute so bedrohlich, dass sie um das Überleben ihrer alten Kulturen fürchten müssen. Die Klimakatastrophe bringt eine ganz neue Form des Ethnozids mit sich, gegen den sich die Inuit, Alëuten, Jakuten, Ewenken, Nenzen, Tschuktschen, Sámi und andere indigene Völker vor allem mittels ihrer politischen Zusammenschlüsse wie der Inuit Circumpolar Conference, der Alëut International Association oder dem russischen indigenen Dachverband RAIPON wehren.

Arktische Geschichte kultureller Vereinnahmung

Einen kultureller Wandel, der auf Eroberung und Kolonialisierung zurückzuführen ist, haben die indigenen Völker in der Arktis bereits ab dem 18.Jahrhundert erlebt. Zu dieser Zeit wurden verstärkt Entdeckungs- und Forschungsreisen in die Arktis durchgeführt. Missionare, Siedler sowie Pelzjäger und -händler kamen in den hohen Norden. So wurden beispielsweise den Alëuten mit der Ausrottung von Wal - und Pelztierarten systematisch ihre natürlichen Lebensgrundlagen und somit auch ihre kulturellen Traditionen und Wirtschaftsweisen entzogen. Zwangsumsiedlungen und Alkoholismus zerstörten ihr Sozialgefüge. Die indigene Bevölkerung Sibiriens, v.a. die Tschuktschen, leisteten erbittert Widerstand gegen die Pelzhändler und Missionare. Die Inuit sind mit den Folgen von Ölförderung und militärischer Nutzung bereits seit den 50er Jahren konfrontiert.
 
Heute gibt es in der Arktis zwar einerseits Ansätze indigener Autonomie und Selbstverwaltung sowie eine politisch gut organisierte indigene Bewegung, die für ihre eigenen Rechte zu kämpfen weiss und neue kulturelle Identitäten schafft. Gleichzeitig bedeuten die Erwärmung und der die Eisschmelze ausnutzende Ölboom eine ungeheure, nie da gewesene und fortschreitende Zerstörung indigener Lebensgrundlagen, Lebensweisen und Kulturen.

Alte Jägerkulturen sind gefährdet

Das Leben der indigenen Gemeinschaften war über unzählige Generationen hinweg auf die sie umgebenden Tiere ausgerichtet. Die Jagd ist aber nicht allein auf Nahrungsbeschaffung und wirtschaftliche Faktoren zu reduzieren. Das Jagen und Verteilen der Jagdbeute ist ein zentraler Bestandteil des sozialen Lebens in den Gemeinschaften. Die Interaktion mit der belebten und unbelebten Umwelt ist für die Inuit und andere indigene Völker die Basis ihrer sozialen und kulturellen Identität. Ihr kulturelles Bedeutungssystem, ihre geistige und materielle Kultur, ihre Religion, ihre Rituale und ihre Kunst sind allesamt eng mit ihrer Umwelt verknüpft. In dieser Bedeutung manifestiert sich auch der Unterschied zwischen der kommerziellen und konventionellen Jagd und der Subsistenzwirtschaft, die vorrangig der Eigenversorgung dient, und in ein kulturelles System eingebettet ist

Die Robben, Wale, Eisbären, Seevögel, Walrosse und andere Tiere dienten ihnen als Nahrung, aber auch als Rohstofflieferant für die Herstellung von Kleidung, Werkzeug und Waffen. Robben dienten nicht nur als Fell und Nahrungsquelle, sondern auch als Ölversorger. So stellt die Ringelrobbe die traditionell wichtigste Nahrungsquelle der Inuit dar, von der sie sich das ganze Jahr über ernährten. Auch konnten die Inuit für Licht und Wärme sorgen, indem sie das Robbenöl in Lampen füllten. Heute sind die vom Eis abhängigen Robbenarten, wie die Seerobbe, die Sattelrobbe, die Ringelrobbe, die Bandrobbe und die Bartrobbe, besonders vom Rückgang des arktischen Meer-Eises betroffen, das in den vergangenen 30 Jahren um 20 Prozent abgenommen hat. Für die Robben ist das Eis der Ort, wo sie Höhlen bauen, um ihre Jungen zur Welt zu bringen und aufzuziehen. Am Eisrand und unter dem Eis gehen sie auf Futtersuche. Ein zu frühes Aufbrechen des Eises kann zu einer frühzeitigen Trennung von Eltern und Nachwuchs, und so zu einer erhöhten Sterblichkeitsrate unter den Neugeborenen führen. Zudem haben die Inuit beobachtet, dass die Robben immer weniger Junge bekommen.

Die Eisschmelze beeinträchtigt auch die Jagd auf Bären. Denn der Eisbär lebt von den Robben und das Meereis ist sein Jagdrevier. Nimmt das Schmelzen des „ewigen Eises“ weiter zu, droht der Eisbär auszusterben. In der James Bay und der Hudson Bay sehen die Inuit bereits die viel zu dünnen Eisbären in den Pfützen des aufgetauten Permafrostbodens liegen und dahin vegetieren. Weil das Meereis sich im Herbst erst später bildet und im Frühjahr früher aufbricht, müssen die Eisbären länger hungern als die gewöhnlichen fünf bis sieben Monate, die sie in ihren Schneehöhlen mit Geburt und erster Aufzuchtphase ihres Nachwuchses verbringen. Ihr Nahrungsangebot nach Verlassen der Schneehöhlen ist von zentraler Bedeutung für ein erfolgreiches Aufziehen ihrer Jungen und ihren eigenen Gesundheitszustand. Mit der Klimaerwärmung hat sich die Verfassung der Eisbären dramatisch verschlechtert, da sie vielerorts von ihren Jagdgründen abgeschnitten sind. Die Zahl der Geburten ist zurückgegangen und die Sterblichkeitsrate der Jungtiere steigt. Zusätzlich nehmen die Eisbären Schadstoffe mit der Nahrung auf und die Umweltgifte speichern in ihrem Körperfett. Bei ausreichender Nahrung, kann das Ansammeln der Schadstoffe im Fettgewebe verhindern, dass die Substanzen den Bären krank machen. Wo jedoch aufgrund unzureichender Nahrung die Fettreserven aufgebraucht werden, setzen sich die Chemikalien im Körper des Eisbären frei und vergiften das Tier. So wirken sich die Verseuchung durch chemische Schadstoffe gemeinsam mit der Eisschmelze auf die geschwächten Tiere verheerend aus.

Das drohende Aussterben der Ringelrobbe und des Eisbären ist für die von den Tieren abhängigen arktischen Gemeinschaften eine schreckliche Erfahrung. Sie finden weniger Nahrungstiere, deren Verbreitungsgebiete haben sich verschoben, Reise- und Jagdbedingungen sind erschwert. Der Kulturwandel macht die indigenen Gemeinschaften zusätzlich verletzbarer. Wo etwa Inuit-Jäger nicht mehr mit Hundeschlitten, sondern mit motorisierten Schneemobilen unterwegs sind, ist die Gefahr, auf zu dünn gewordener Eisdecke einzubrechen, erhöht. Hunde können die gefährlichen Eisverhältnisse wittern. Motorisierte Fortbewegungsmittel können zwar weitere Strecken zurücklegen und schwereres Gepäck befördern, brechen jedoch leichter auf den einst vertrauten und nun unberechenbar gewordenen Eisrouten ein. Auf diese Weise sind bereits viele Inuit tödlich verunglückt. Ihr Zuhause ist zu einer gefährdeten und gefährlichen Landschaft geworden.

Indigenes Wissen

Die indigenen Gemeinschaften beobachten die klimabedingten Veränderungen schon seit vielen Jahren und verfügen über einen reichen Schatz lokalen Wissens über ihre Umwelt. Sie haben über Generationen weitergegebene Kenntnisse und Ansätze, wie die Folgen der Klimaveränderung und der Umweltbelastung erkannt, gedeutet und möglicherweise bewältigt werden können. Entsprechend müssen die indigenen Gemeinschaften mit den Kenntnissen der Alten und Weisen als lokale Experten mit Bedürfnissen und Handlungsempfehlungen als Betroffene eine zentrale Rolle spielen. Wo Anpassungsmechanismen an die veränderten Bedingungen gesucht werden, ist dies unausweichlich. Wichtig ist, einen gleichberechtigten Dialog zu etablieren, in dem die verschiedenen Systeme von Wissen und Erfahrungen zusammengeführt und wissenschaftliche Forschungsergebnisse und Prognosen mit den lokalen indigenen Einsichten und Kenntnissen zusammengedacht werden. Ein solcher dialogischer Ansatz muss den weit verbreiteten utilitaristischen Umgang mit indigenem Wissen ablösen, der Kenntnisse nur in die eigenen Konzepte integriert und die Dominanz über indigene Gemeinschaften fortschreibt und reproduziert.
Quelle: Gesellschaft für bedrohte Völker - Dezember 2006