Chicken, Alaska – zwischen 17 und 37 Einwohner

Ein Teilabschnitt unserer Millenniumsreise führte uns von Dawson City (Canada) nach Tok (Alaska). Gegenüber vor rund 10 Jahren hat der Top of the World Highway an vielen Stellen einen Teerbelag erhalten. Dadurch kommen wir trotz Regen und Hagel gut voran. Einige Zeit nach der Grenze taucht am Strassenrand ein von Kugeln durchlöchertes Schild auf. „Chicken, 1 mile“ steht darauf. Wir nehmen den Linksabzweiger Richtung „Downtown Chicken“ und folgen der Piste. Nach einer Rechtskurve öffnet sich die Sicht auf eine gerodete, teilweise von Buschgras überwachsene Fläche mit ein paar aneinander gereihten Bretterbuden: „Chicken“!

Damals war es zwei Uhr nachmittags. Vor seinem verbeulten Pick-Up sass ein alter Mann, wie ein Denkmal aus längst vergangener Zeit, in seinem Schaukelstuhl. Die Stiefel weit von sich gestreckt, kaute er genüsslich einen Tabakpriem. Die Moskitos, die ihn umschwirrten, nahm er nicht wahr. Nur die Augen wanderten unter der ins Gesicht gezogenenen Hutkrempe munter hin und her. Amüsiert beäugte er uns Touristen, als wir uns zu viert vor dem Saloon für ein Erinnerungsbild aufbauen. „Nein, so geht das nicht“, sagte er. Erhob sich, öffnete die Tür seines Pick-Up und nahm einen Colt samt Patronengürtel vom Nebensitz. Er drehte sich um und hängte einen von uns das schwere Ding so locker um die Hüfte, dass der Colt auf Kniehöhe baumelte. Fototermin: eine Szenerie wie sie zu Chicken, Alaska passt. Schön war das. Heutzutage dürfte seine Seele wo anders leben.

Zurück zur Gegenwart. Aus dem „Chicken Creek Saloon“ dringt Gelächter zu uns. Rechts vom Eingang hängt ein verwittertes Holzschild mit dem Hinweis: „No Guns, No Knives Allowed“ (keine Waffen, keine Messer erlaubt). Wem der Saloon zu gefährlich ist (das gibt’s), hat in Downtown Chicken die Qual der Wahl: entweder isst er im „Chicken Creek Cafe“ eine Obstschnitte – oder er kauft sich im „Chicken Mercantile Emporium“ ein T-Shirt mit der Aufschrift: „Enjoy Chicken, Alaska! 50 Million Mosquitos Can’t be Wrong“. Erst später erfahren wir, dass die Eigentümer immer dieselben sind; Downtown Chicken ist ein Familienbetrieb.

Als wir den Saloon betreten, wenden sich sieben Gäste an der Theke um und schauen zur Tür, die sich ächzend hinter uns schliesst. Das Lachen ist verstummt, neugierig werden wir drei Fremde betrachtet, die noch etwas steif von der Fahrt sind und leicht befangen den Raum durchqueren. „What will it be?“ fragt der Wirt und es wird still im Saloon. Sieben Augenpaare blicken gespannt, sieben Köpfe verharren reglos. Sieben rauchende, tabkkauende Gestalten mustern uns. Draussen knarrt ein Gatter im Wind. „Three beers“ sollen es sein. Dies ist die richtige Antwort. Die sieben Barfliegen entspannen sich, greifen ihrerseits zu den sieben Dosen, die vor ihnen stehen, und nehmen sieben tiefe Schlücke. Langsam gewöhnen sich unsere Augen ans Halbdunkel des Raumes. An der schräg abfallenden Decke sind Dutzende von Banknoten befestigt, meist Dollarscheine, vereinzelt aber auch ausländische Währungen. Die Wände sind zugepflastert mit Baseball-Mützen, unzähligen Visitenkarten sowie ein paar Bilder von Bergleuten und Goldsuchern.

Dann sticht mir ein vergilbtes schwarz-weiss Foto ins Auge: ein kleiner Ort mit einigen Holzhütten, davor zwei Damen in langen Roben und im Hintergrund einige Reiter – „ist das Chicken?“ frage ich. „Yessir, Chicken“, antwortet Greg Wiren, der bärtige Wirt, der mit seiner Frau Sue den Chicken Saloon betreibt. „Das ist Chicken, von Goldsuchern um 1900 am Chicken Creek und Mosquito Fork gegründet und am Fusse der Lost Chicken Hills gelegen“. Das Nest in der Nähe der Grenze zum Yukon Territory war um die Jahrhundertwende ein kleiner blühender Ort. Eigentlich sollte er "Ptarmigan" (Schneehuhn) heissen, wurde aber im einheimischen Sprachgebrauch bald in "Chicken" umbenannt. 1902 hat Alaska Chicken als zweite Stadt inkorporiert. Heute leben noch zwischen 17 und 37 Leute hier. Im "Grossraum" von Chicken (immerhin ca. 289 Quadratkilometer), in dem noch einige Goldminen aktiv sind, leben knapp 200 Menschen. Vielleicht dauert es nicht mehr lange, bis auch aus Chicken eine der vielen Ghost Towns des Nordens geworden ist. Doch vorderhand ist von Untergangsstimmung nichts zu spüren.

Noch gibt es in Chicken einen „Flughafen“, eine Post (seit 1906), ein Geisterdorf, eine Tankstelle – und Gold nach wie vor. Und was es noch nicht gibt: Telefon, Elektrizität, Spültoiletten und fliessendes Wasser (schätzungsweise dürfte sich dies bald ändern). Wer dringend muss, dem bleibt nur der Gang aufs Plumsklo. Der einzige Komfort: die Häuschen für die Damen und Männer stehen etwas getrennt. Die ganze Türfläche für Ladies ist liebevoll mit einer gelben Henne und diejenige der Gents mit einem gelben Hahn bemalt.

Die Menschen in Chicken sind Aussenseiter, unabhängig und unangepasst. Von den sieben bärtigen Gesellen, die sich bei Greg laben, tragen vier lange Haare, zwei davon einen Zopf und einer ein Pferdeschwanz. „Hier bist du noch wirklich frei, Mann, hier redet dir niemand drein, hier bestimmst du selber, wann die Arbeit beginnt und wann sie endet“, tönt es aus der Runde. Ihre Abneigung gilt jeder Bevormundung und Fremdbestimmung. „Wir haben hier etwas gegen Leute, die uns sagen, wie wir leben sollen“, meint Greg. „Es gibt keine Polizei, keinen Sheriff und auch keinen Richter. Wird es einmal ernst, sind die Behörden in Tok zuständig. Doch die sind weit weg und so erledigen wir die Angelegenheiten auf unsere Art und Weise. Und das ist gut so“.

Heute Abend treffen sich die Digger im Chicken Saloon, um ihre Goldfunde der letzten Monate zu veräussern. Schade, dass wir nicht bleiben konnten, aber vielleicht ist es für unsere Gesundheit besser so. Eines aber bleibt uns in Erinnerung: Chicken ist mit Sicherheit immer einen Abstecher wert!         

Hinter der letzten Blockhütte beginnt wieder die weite Wildnis und die grosse Einsamkeit ...                       2/4