Badische Zeitung 23. Oktober 2016

 

Wo die wilden Bären wohnen

Alaska ist einer der jüngsten Bundesstaaten Nordamerikas – unberührt, voll von Bergen, Tieren und einer gehörigen Portion kristallklarer Freiheit / Von Sofia Conraths (Text und Fotos)

Der sogenannte Portage Glacier im Chugach National Park schmilzt langsam, aber sicher vor sich hin: Ein untrüglicher Beweis für die Erderwärmung und den rasanten Klimawandel

Ach, eigentlich sind sie über alle Worte erhaben. Jede Beschreibung klingt hohl im Vergleich zu ihrer unbeschreiblichen Pracht. Wie sie dort aus dem Nichts emporragen, sich gen Himmel recken und strecken, als würden sie ihn gerne berühren, einfach mal so, als Test. Sie sind so groß, und sie haben so viel Kraft. Stehen da mit ihren schroffen, steilen Wänden, und den hellen Schneehauben in den hohen Felszacken. Ganze siebenundzwanzig sind es. Gletscher, wie man sie selten gesehen hat.

Wir lehnen an der Reling, sechs an der Zahl, und starren ehrfürchtig zu den Gipfeln hinauf, während uns die Fähre gemächlich über den riesigen, schier unendlichen Prince William Sound im Süden Alaskas, einem der 50 Bundesstaaten Nordamerikas schippert. Ein bisschen fühlen wir uns wie Pioniere, wie Entdecker, die in eine völlig unbekannte, unberührte Welt eindringen. Leider sind wir dort, im hohen Norden Amerikas, nicht die Ersten.

Die Ersten waren mutige, ziemlich fitte Nomaden aus Sibirien vor gut 16 000 Jahren. Sie machten sich auf den Weg gen Osten, und besiedelten Alaska als ersten Teil des amerikanischen Kontinents. Wie sie von Asien nach Amerika kamen? Über die damalige Landbrücke Beringia, die 6000 Jahre später wieder im Meer versank, und auf diese Weise die beiden riesigen Kontinente trennte.
Den sibirischen Nomaden gefiel es in Alaska. Sie blieben, und wurden zu Ureinwohnern des entdeckten Gebietes. Heute bestehen sie aus elf unterschiedlichen Kulturen: den Athabascan, den Unangax und Aleuten, den Yup’ik und Cup’ik, den Inupiaq und den St. Lawrence Island Yupik, sowie den Eyak, den Tlingit, den Haida und den Tsimshian. Jede Kultur spricht eine andere Sprache, dazu kommen 22 eigene Dialekte.

Der erste europäische Alaska-Entdecker war der Russe Semjon Deschnjow, der damit den Grundstein für die russische Kolonisierung des Gebietes legte. Ab 1745 waren Deschnjows Landsleute regelmäßig auf der Suche nach Seeottern und deren Pelzen.

Nach dem verlorenen Krimkrieg (1853 bis 1856) musste die russische Staatskasse wieder aufgefüllt werden. So verkaufte Zar Alexander II. im Jahr 1867 Alaska für 7.2 Millionen Dollar in Gold an die USA. Doch erst am 3. Januar 1959 wurde das Gebiet durch den sogenannten Alaska Statehood Act der 49. Bundesstaat der USA. Dennoch beeinflussten die Russen die Völker der Unangax und Aleuten so stark, dass dort auch heute noch russische Gerichte gekocht und russische Wörter in diesen beiden indigenen Sprachen benutzt werden.

Alaska. Schon vor der Reise, vor dem Abflug haben sich bei diesem Wort zahlreiche, unkoordinierte, wunderschöne Bilder in unseren Köpfen geformt. Eis, Kälte, Bären, aber auch Blüten, Licht, Meer. Wir wussten nicht, was wir dort, an der sogenannten Last Frontier, der "letzten Grenze", wie die Alaskaner ihre Heimat nennen, finden würden. Die Aufregung war riesig, und der Koffer prall gefüllt mit Pullovern, Mützen und Anoraks. Wie sich herausstellte, völlig unnötig. Der prall gefüllte Koffer, nicht die Aufregung.

Bei der Ankunft: 25 Grad, strahlender Sonnenschein und eine angenehme Brise. Grüne Wiesen und im Hintergrund die Berge, schneebedeckt. Über der Bucht von Anchorage, mit 300 000 Einwohnern die größte Stadt Alaskas, sausen die Propellerflugzeuge vorbei. "Für uns Alaskaner ist es nichts Besonderes, einen Propellerflieger zu sehen. Es ist, als würde bei euch ein Auto vorbeifahren", sagt Jeannette Mores, Einwohnerin aus Anchorage.

Anchorage gilt für den Süden Alaskas als Versorgungsbasis. Supermärkte, Einkaufszentren, Tankstellen und Restaurants häufen sich und verkaufen täglich ihre Produkte an Kunden, die oft von weit, weit her kommen. Von fast 720 000 Einwohnern leben ganze 60 Prozent im Inland Alaskas, wo es weder Busse noch Bahnen, teilweise noch nicht mal Straßen gibt. Das ist auch der Grund, warum gefühlt jeder zweite Erwachsene eine Propellermaschine besitzt, mit der er von A nach B kommt. Und wenn er von A nach B fliegt, sieht er die verblüffendsten, schönsten Landschaften unter sich.

Alaska besteht aus drei besonderen Gebieten: einer imposanten Gebirgskette entlang der südlichen Pazifikküste. Der sogenannten Yukon-Niederung, die von Bergen und Hügeln umgeben ist. Und einer Küstenebene am Nordpolarmeer. Im nördlichen Mittelteil des US-Bundesstaats liegen die Berge der Alaskakette, zu der auch der Denali, früher Mount McKinley genannt, gehört. 6190 Meter. Auf diese Höhe sind die Alaskaner besonders stolz. Sie macht den Denali zum höchsten Berg Nordamerikas.

Einen Ausflug in die Wolken machen? Das wollen wir auch ausprobieren. Nichts wie weg mit der Funktionsjacke und dem vorsichtshalber im Handgepäck gebunkerten Schal. Wir schnappen uns Wanderschuhe und Kamera und gehen Helikopter fliegen. Von der Knik River Lodge in Palmer, einer Kleinstadt nahe Anchorage, starten wir unseren Flug über die Gletscher, über die riesigen Risse und tiefen Spalten, das gefrorene Eis und die Berglöwenfamilie, die wir von oben sehen können.

Nach einer halben Stunde landen wir mit unserem Piloten Jeff Schulz beim sogenannten Campground von Huskyliebhaber Justin Savidis und seinen zweiundfünfzig erwartungsvollen Schlittenhunden. Mit denen geht es auf altmodischen, schrecklich romantischen Holzschlitten durch den Schnee. Die Hunde, mit skurrilen Namen wie Fritz oder Elim, können es kaum erwarten, vor die Schlitten gespannt zu werden. Sobald sie das Startsignal hören, rasen sie los. Etwas verkrampft klammern wir uns an die Sitze. Doch schon nach wenigen Sekunden sind wir alle wieder tiefenentspannt. Die Weiten, der Gletscher, die Sonne, die hechelnden Huskys: Es wirkt so unecht wie ein Traum, ein ziemlich fantastischer Traum. Vor allem die Sonne, die uns angrinst, können wir gar nicht so recht begreifen. Die, so lernen wir, sollten wir dort im hohen Norden aber ganz besonders zu schätzen wissen.

Denn im nördlichen Teil Alaskas herrscht ein subpolares Klima. Das bedeutet: Die Winter sind lang, schwarz, eisig, die Sonne kommt gar nicht oder höchstens zwei bis drei Stunden zum Vorschein. Sieben Monate lang. Schon bei dem Gedanken wird uns kalt. Im absoluten Gegensatz dazu geht sie im Sommer fast gar nicht unter und ertränkt beispielsweise die Bucht des Cook Inlet bei Anchorage in rotgoldenem, tiefem, glänzendem Licht. Im Sommer lebt Alaska draußen. Alaska segelt, angelt, fliegt, wandert. Speichert so viel Tageslicht, so viel Energie, so viel Wolken, Himmel, Leben, Blumen, Tiere, Eindrücke wie möglich. Denn im Winter liegt ein schwarzes Tuch über der "letzten Grenze", Tag und Nacht. In diesen sieben Monaten wird die Geduld der Einwohner auf eine harte Probe gestellt.

Jede Menge Geduld muss auch Rob Daugherty haben, aber auf eine andere Art. Rob ist Tier- und Naturfotograf und hat die grünsten Augen der Welt. Die richtet er am liebsten auf Bären. Im Lake Clark National Park, im Südwesten, macht er sich täglich auf den Weg durch Büsche und Wälder, späht Spuren an den Stränden aus und robbt durchs Unterholz. Er sucht sie ganz gezielt, die majestätischen Braunbären. Bis zu 50 000 Schwarz- und mindestens genauso viele Braunbären leben dort. Im Park sind sie leicht zu finden, weil sie keine Angst haben. Die Menschen sind weit weg. Normalerweise. Und wenn sich doch ein paar Abenteurer mit Rob auf den Weg machen, um einen Blick auf die dunklen Riesen mit ihren tellergroßen Tatzen zu erhaschen, dann ist es den Tieren egal. Für Besucher lautet nämlich die goldene Regel: Nie näher als 60 Meter an Bären herantreten. Zum Schutz für den Menschen. Denn bei einer Distanz von 60 Metern haben Menschen vermutlich noch Zeit, sich in Sicherheit zu bringen, sollte dem Braunbär plötzlich nach einer kleinen Verfolgungsjagd sein. Die Regel gilt aber auch zum Schutz der Bären. "Denn wenn die Tiere Angst bekommen und sich eingeengt fühlen, machen sie sich auf den Weg gen Süden, verlassen die Grenzen des Parks, in dem sie geschützt sind, und werden von Jägern erschossen", betont Rob.

Er selbst stand schon oft einem Braunbären gegenüber. Als Naturfotograf ist ihm der Schutz der Tiere besonders wichtig. Er hat jahrelange Erfahrung, ist umsichtig und stets auf der Hut. Und sucht dennoch die Nähe zu ihnen – ohne sie zu verjagen. "Meistens halten sie sowieso Abstand", erzählt Rob. Gefährlich wird es nur, wenn beide sich erschrecken, Mensch und Bär. Etwa wenn ahnungslose Besucher auf eine Mutter mit Jungen treffen. Da die Tiere im Lake Clark Park frei herumlaufen, ist es nicht selten, dass sie einem im Dickicht der Bäume begegnen. "Einfach so, während man sich gerade den Schuh zubindet oder sein Sandwich verzehrt", erzählt Rob. Dann heißt es, schreien, Lärm machen, notfalls Steine werfen – aber niemals weglaufen! Sonst wird man zur Beute.

Wir bleiben auf Abstand, sitzen im Van und sind dennoch begeistert: Bei einer zweistündigen Fahrt erblicken wir 17 Bären, können entspannt und ohne Furcht den Blick und die Gedanken schweifen lassen.

Dieses gleißende Licht, diese Elche, diese knuffigen Seeotter im Prince William Sound. Diese Berge, die sich, so scheint es, alle zu einem Schönheitswettbewerb in Alaska verabredet haben. Diese Wasserfälle und Braunbären. Wir zittern, denn Glück lässt einen manchmal erschauern. Egal wo wir uns im wilden Alaska befinden: Wir haben Gänsehaut. Am liebsten würden wir daheim anrufen, in Europa, das sich so weit entfernt anfühlt, so weit entfernt wie noch nie. Wir würden anrufen und kurz in den Hörer brüllen: "Ich bin dann mal weg." Und dann würden wir dort bleiben, dort oben, in Alaska. Denn in Alaska, so denken wir, ist jeder so frei, so wunderbar frei, dass es fast weh tut. Dort, an der grünen, wolkenlosen und magieumwobenen "letzten Grenze".
Die Reise wurde unterstützt von Visit Anchorage.

Ob riesiger Braunbär im hohen Gras, eleganter Husky im ewigen Eis oder rückenschwimmende Seeotter im eisigen Wasser: Entspannung wird in Alaska bei Tieren groß geschrieben.