Auf Du und Du mit dem Kodiak-Bär

Wenn man als Tierfotograf die optimale Stelle für Aufnahmen gefunden hat und das Stativ aufgebaut ist, beginnt das Warten. Man hat genügend Zeit, um den Gedanken freien Lauf zu lassen und sich zu erinnern, wie alles kam, dass man jetzt, im Jahre 2011, - ausgerechnet hier - irgendwo in der weiten Wildnis Alaskas sitzt und sich spitzbübisch auf persönliche Begegnungen mit Kodiak-Bären freut.

Meinen ersten Bärenkontakt hatte ich in meiner Kindheit mit einem Teddybär. Ich mochte diesen netten, kleinen Kerl mit seinen Knopfaugen, die mich immer freundlich anschauten. Vielleicht war dies der Grund, dass mich später die Bären im Zürcher Zoo nachhaltig beeindruckten. Ihr Grösse und Stärke, ihr souveränes Auftreten habe ich immer wieder staunend bewundert.

Als Jugendlicher verschlang ich verschiedene Romane von Jack London, in denen auch von den Bären Nordamerikas erzählt wird. Vor allem „Lockruf des Goldes“ ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. London richtete meinen Blick auf Alaska, auf die endlos scheinende Weite einer noch unberührten Landschaft. Alaska, the last frontier. Das faszinierte mich ungemein, ohne da gewesen zu sein. In der Folge machte ich mich schlau über Alaska und die dort lebenden Bären, verpasste keine Dokumentarfilme, deckte mich mit Büchern ein, während mir die Landkarten die Dimensionen vor Augen führten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde Alaska zu meinem Sehnsuchtsort, zu einem persönlichen Utopia, das ich früher oder später besuchen wollte.

Um mein Englisch zu verbessern, entschied ich mich einige Jahre später für einen längeren Aufenthalt in den USA, schaffte es aber nebst anderen Gründen auch vom Finanziellen her nicht, bis nach Alaska vorzudringen. Doch Alaska blieb ein Traum. Erst im Sommer 1993 ging mein lang gehegter Wunsch endlich in Erfüllung. Zu zweit mieteten wir einen Wagen, besuchten für einige Tage den bequem zu erreichenden Denali Nationalpark. Wir machten es wie die vielen anderen Touristen und campten dort. Da begegnete ich den ersten Bären in freier Wildbahn, einer Bärenmutter mit ihren zwei Jungen und dies keine 30 Meter von mir entfernt. Da wurde der Wunsch geboren, mich intensiv mit den Bären Alaskas zu befassen und in die Tierfotografie zu investieren. Die zweite Reise unternahm ich 1995 gut ausgerüstet und vorbereitet. Dies war meine erste Expedition zu den grössten Braunbären der Welt, der noch viele weitere folgen sollten. Dabei lernte ich auch Einiges von Alaska kennen, wie die verschiedenen Vegetationszonen, die vom Mischwald über Tundra bis zum Hochgebirge reichen. Dann die Peninsula Region, die im Wesentlichen aus einer 800 Kilometer langen Halbinsel besteht, die das Beringmeer vom Nordpazifik trennt. Diese Region kennzeichnet ein subpolares Klima mit langen und kalten Wintern sowie kurzen Sommern. Die Landschaft ist geprägt von Permafrostböden, Bergen, aktiven Vulkanen, Flusssystemen, Seen und meist karger Vegetation. Ein idealer Lebensraum für Bären. Auch heute ist Alaska noch immer weitgehend unberührt.

Bären kann man riechen

Ein Geräusch unterbricht meine Gedanken und holt mich in die Gegenwart zurück. Es ist David Bittner, der auf einen dorren Ast getreten ist, was das Knacken verursachte. Mit ihm werde ich diesen Sommer (Jahr 2011) einige Wochen bei den Küsten-Bären, den grössten Braunbären der Welt,  verbringen. Wir warten gemeinsam. Man begibt sich nicht unmittelbar zu den Bären, sondern zu den Orten, an denen sich Bären einfinden. Geduldiges Warten hat die Wohlstandsgesellschaft verlernt, doch hier kann man es wieder lernen. Und nicht nur das, auch das Leben mit seinen natürlichen Abläufen kann man neu erfahren, so quasi eine Art Lebensschule absolvieren. Dabei wird mir bewusst, wie viel Geduld und Ausdauer erforderlich ist, um eine gute Aufnahme zu machen. Doch das Warten wird belohnt, denn die Begegnung mit einem wilden Bären ist etwas Einzigartiges. Für mich sind es magische Momente und pure Emotion, wie ich sie in dieser Form nirgends sonst finde. Für einen Laien mögen die Bären alle gleich aussehen oder zumindest sehr ähnlich sein, aber wenn man sie über einen längeren Zeitraum beobachtet und fotografiert, kann man sie schnell unterscheiden. Endlich, nach einer halben Ewigkeit tut sich was. Der neugierige Bär kommt langsam auf mich zu. Ab und zu bleibt er stehen, schnuppert und behält die Umgebung im Auge. Ich habe ihn voll im Visier des Objektivs. Gedanken martern meinen Kopf. Komm ich „zum Schuss“ oder dreht er vorher ab. Ich verstecke mich hinter meiner Kamera, kann jedes einzelne Haar erkennen und er nähert sich und nähert sich. Mein Herz schlägt rasant, mein Atem wird schneller. Ich habe den den Eindruck, jetzt steht er vor mir. Ganz instinktiv fällt die Entscheidung und ich betätige den Auslöser. Eine Salve von Bildern verursacht ein leises Rattern, und verrät mir, dass die Fotos im Kasten sind. Dramatisch und herrlich zu gleich. Der Bär beginnt ein paar Meter neben mir zu fischen. Bewegungslos sehe ich ihm zu. Ich lächle zufrieden und fühle mich Eins mit der Natur. Das sind Glücksmomente. 
 

.

In Alaska ist es üblich, Bären im Binnenland Grizzly zu nennen, und Bären, die in der Küstenregion leben, Braunbären. Eine Unterscheidung für die es keine biologischen Gründe gibt. Isoliert vom Festland bilden die Bären der Insel Kodiak eine Unterart. Der Kodiakbär gilt als grösster Bär und grösstes Landraubtier der Erde. Zurückzuführen ist das nicht zuletzt auf die gute Versorgung mit Lachsen während der Lachswanderungen; also Nahrung im Überfluss. Kodiak Island und der Katmai Nationalpark sind für mich zu meinen Lieblingsregionen in Alaska geworden, in die ich regelmässig zurückkehre.

Einer Bärin mit ihren Jungen zu begegnen, zählt mit zu den faszinierendsten Erlebnissen, die ich in Alaska hatte. Die Jungbären rufen Erinnerungen an Teddybären wach. Das Säugen der Jungen vermittelt eine ganz besondere Art von Harmonie und des Einklangs. In Wahrheit jedoch ist die Aufzucht der Jungen für die Bärin ein Kampf auf Leben und Tod. Eine Bärin kann frühestens ab dem fünften Lebensjahr Junge bekommen. Die Trächtigkeit beginnt nicht gleich nach der Paarung, denn die befruchtete Eizelle wird gewissermassen zwischengelagert, bis im Oktober oder November die Winterruhe beginnt (Bären machen keinen Winterschlaf). Erst wenn die Bärin ihre Höhle aufgesucht hat, lagert sich die Eizelle in der Gebärmutter ein und löst somit die eigentliche Schwangerschaft aus. Schon nach etwa sieben bis acht Wochen werden die Jungen geboren. Diese sind mit einer Länge von rund 25 Zentimeter sehr klein, blind und nur spärlich behaart. Ihr Gewicht schwankt zwischen 400 bis 600 Gramm.

Längst stellen Bären einen bedeutenden wirtschaftlichen Faktor für Alaska dar. Allerdings nicht in Form von Bärenfellen oder Bärenfleisch, sondern durch „Bear Viewing“ oder „Bear Watching“. Jährlich nutzen Tausende von Touristen die Gelegenheit, Bären zu bewundern. Nicht wenige von ihnen werden von Kreuzfahrtschiffen zu den Aussichtsplattformen und Beobachtungsstellen in den Nationalparks gebracht. Allerdings spüren die Bären natürlich diese Menschenströme und bleiben immer öfter den vertrauten Fischrevieren fern.

Tipps für Outdoor Freaks – eine Expedition ist keine Pauschalreise

 Eine Expedition in Alaska darf man nicht mit gelegentlichem Freizeitcampen auf einem europäischen Campingplatz mit Duschen, Toilette und Kiosk verwechseln. Eine echte Expedition ist nur sinnvoll, wenn man sich entsprechend vorbereitet. Die Anreise ist zu aufwendig und zu kostspielig, um sich nur ein bisschen umzusehen. Zudem sieht man mehr, je besser man mit den Gegebenheiten, dem Wetter und der Ausrüstung vertraut ist. Die wichtigste Grundvoraussetzung ist natürlich die eigene Gesundheit und körperliche Fitness. Alles, was für einen längeren Aufenthalt in der Wildnis notwendig ist, muss in den Rucksack passen und auch getragen werden können. Eine weitere Grundvoraussetzung ist passende Kleidung. Am besten besteht sie aus mehreren dünnen Schichten. Diese Kleidungsstücke lassen sich  leicht an- und ausziehen, so dass man sich schnell auf Temperaturwechsel einstellen kann. Auch lässt sie sich leichter trocknen. Wichtig sind wasserfeste, atmungsaktive Jacken und Hosen (z.B. Wathosen) und gute Wanderschuhe. Der wichtigste Schutz gegen Überraschungen, die das Wetter zu bieten hat, ist das Zelt, das somit überlebenswichtig ist. Entsprechend vorsichtig muss es behandelt werden. Während dem Aufenthalt 2011 hatten wir viel Regen und Sturm an der Küste. Wir mussten deshalb bis zu 48 Stunden im Zelt verharren. Um das Risiko zusätzlich zu minimieren, sollte man grundsätzlich auf Speisen verzichten, die stark riechen, ebenso auf Fisch und Fleisch. Mit dehydrierter Nahrung habe ich gute Erfahrungen gemacht. Sie hat kaum Gewicht, ist geruchssicher eingeschweisst und braucht nur mit heissem Wasser aufgegossen zu werden. Mit frisch gefangenem Fisch, selbst gesuchten Muscheln und Beeren kann der Menüplan hervorragend ergänzt werden. Beim Fly out hatten wir zu zweit insgesamt 250 Kilogramm Gepäck (inklusive Kameraausrüstung mit Zubehör, Akkus, kleine Solargeräte, Elektrozaun (Achtung: gefährliche Stoffe wie Pfefferspray, Kochbenzin gehören in den Schwimmer des Wasserflugzeugs). Zum Schluss braucht es einen guten Piloten, der mit der Gegend auch bei Schlechtwetter vertraut und zugleich ein ausgezeichneter Monteur ist, der seine Maschine hegt und pflegt. Happy Landing! Runter kommt man immer!

Generell gilt beim Camping: Null Abfall, d.h. die Natur  so intakt zurücklassen, wie man sie vorgefunden hat. Wer in der Wildnis unterwegs ist, muss sich auch der Gefahren bewusst sein und sich diesen stellen. Respektiere den Bären, lass ihm einen Freiraum von 100 Meter und es gibt keine Probleme.

Mit dem Lachs kommt der Bär

Bei der Lachswanderung ist nur entscheidend, wo sich die Lachse gerade aufhalten. Forschungsergebnisse zeigen, dass nicht nur die Bären, sondern die ganze Natur in den Küstengebieten Alaskas vom Lebenszyklus der Lachse beeinflusst wird. Die Bären, so imposant sie auch auf uns Menschen wirken, sind selbst nur ein kleines Teil eines komplexen Ökosystems. Jüngste Beobachtungen zeigen, dass infolge des Klimawandels die Buckellachse heute etwa zwei Wochen früher mit ihrer Wanderung beginnen, als vor 30 Jahren. Gleichzeitig verlagert sich der Schwerpunkt der Wanderungen auf den Sommer, während im Herbst deutlich weniger Lachse in den Flüssen unterwegs sind. Setzt sich diese Entwicklung fort, sind die Folgen für die Bären, die in den Herbstmonaten ihre Fettreserve für die Winterruhe aufbauen, absehbar.

Eine weitere Bedrohung entsteht durch den Müllteppich aus Plastikmaterialien der im Ozean schwimmt (auch „Great Pacific Garbage Patch“ genannt). Plastikflaschen und Kleidung aus synthetischen Fasern bilden den Grossteil des Mülls, der mit der Zeit in winzige Partikel zerfällt, die vom Plankton gefressen werden. Das Plankton aber steht am Anfang der Nahrungskette im Meer und versorgt so alle anderen Tiere mit Gift, also auch die Lachse. Wieder einmal zeigt sich, dass alle Ökosysteme der Erde zusammenhängen.           Hansruedi Weyrich

PS Mein Vorbild ist der japanische Tierfotograf Michio Hoshino (1952 – 1996). Michio ist 1996 auf der russischen Halbinsel Kamtschatka von einem Bären getötet worden. Ihm zu Ehren schrieb Lynn Schooler, ein Guide und guter Freund, ein bemerkenswertes Buch, das auf Deutsch unter dem Titel „Die Spur des Blauen Bären“ erschienen ist.

Liebhaber finden weitere Bärenaufnahmen in meinem Bildband „Kodiak-Bären – ganz persönliche Begegnungen“, BLV Buchverlag GmbH & Co. KG, München